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Der Geist demütiger Dankbarkeit für in der Vergangenheit erfahrenes Erbarmen, der in diesen Worten zum Ausdruck kommt, ist eine Tugend, zu der wir besonders im Evangelium aufgerufen werden. Jakob, der die Worte sprach, wusste nichts von jenen großen und wunderbaren Taten der Liebe, mit denen Gott die Menschheit seither heimgesucht hat. Doch obgleich er die Tiefen des göttlichen Ratschlusses nicht zu erkennen vermochte, kannte er sich selbst so weit, um zu wissen, dass er sich jegliches Guten für unwürdig erachtete. Er wusste auch, dass Gott der Allmächtige ihm großes Erbarmen und große Treue erwiesen hatte: Erbarmen insofern, als er Gutes an ihm getan hatte, während er Böses verdient hätte; und Treue insofern, als er ihm Verheißungen gegeben und treu zu ihnen gestanden hatte. Deshalb floss er über vor Dankbarkeit, als er auf die Vergangenheit zurückblickte; er staunte über den Gegensatz zwischen dem, was er nach eigenem Dafürhalten war, und dem, was Gott ihm gewesen war.
Eine solche Dankbarkeit, so meine ich, ist eine ausgesprochen christliche Tugend, und sie wird uns in den Schriften des Neuen Testaments eingeschärft. So werden wir zum Beispiel ermahnt, „dankbar" zu sein und „das Wort Christi in seiner Fülle in aller Weisheit in uns wohnen zu lassen; einander zu belehren und zu ermahnen in Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern und dem Herrn dankbar in unseren Herzen zu singen" (Kol 3, 15-16).
An anderer Stelle wird uns aufgegeben, „zueinander zu sprechen in Psalmen und Hymnen und geistlichen Liedern und dem Herrn zu lobsingen und zu jubilieren in unseren Herzen; allezeit und für alles Dank zu sagen Gott, dem Vater, im Namen unseres Herrn Jesus Christus" (Eph 5, 19-20).
Und weiter: „Um nichts macht euch Sorgen, lasst vielmehr in jeder Lage euere Anliegen durch Bitten und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden" (Phil 4, 6).
Wiederum: „Dankt für alles; denn so will es Gott von euch in Christus Jesus" (1 Thess 5, 18).
Der Apostel, der all dies geschrieben hat, war selbst ein besonderes Vorbild für eine dankbare Gesinnung: „Freut euch im Herrn allezeit! Noch einmal will ich es sagen: freut euch!" (Phil 4, 4). „Ich habe gelernt, in jeder Lage, in der ich bin, auszukommen. Ich habe alles erhalten, und zwar mehr als genug; ich habe in Fülle" (Phil 4, 11.18). Ferner sagt er: „Dankbar bin ich ihm, der mir Kraft verlieh, Christus Jesus, dass er mich für zuverlässig hielt und in den Dienst nahm. Ich war ja zuvor ein Lästerer, Verfolger und Frevler. Doch ich fand Erbarmen, weil ich als Unwissender es tat, in Unglauben. Überreich groß war die Gnade unseres Herrn zusammen mit Glaube und Liebe in Christus Jesus" (1 Tim 1, 12-14). O großer Apostel! Wie konnte es anders sein in Anbetracht dessen, was er früher war und später wurde – vom Feind zum Freund verwandelt, vom blinden Pharisäer zum geisterfüllten Prediger? Doch es gibt noch einen anderen Heiligen, neben dem Patriarchen Jakob, der sein Gefährte ist in dieser vortrefflichen Tugend – wie die beiden herausgehoben durch große Wechselfälle des Lebens, durch die anbetende Liebe und Zartheit des Herzens, mit der er auf die Vergangenheit zurückblickte. – Ich spreche von „David, Sohn des Isai, der Mann der hochgestellt war, der Gesalbte des Gottes Jakobs, der Sänger der Lieder Israels" (2 Sam 23, 1).
Das Buch der Psalmen ist voll von Beispielen für die dankbare Gesinnung Davids, die ich hier nicht anzuführen brauche, da sie uns allen so vertraut sind. Ich will nur hinweisen auf sein Dankgebet, das am Ende des ersten Buches der Chronik steht und das er sprach, nachdem die kostbaren Gaben für den Bau des Tempels bereitgestellt waren – da er sich so sehr freute, weil er und sein Volk das Herz hatten, so freigebig gegen Gott zu sein und eben er für seine eigene Dankbarkeit Gott pries. „David, der König, ... hatte große Freude; deshalb pries David den Herrn vor der ganzen Versammlung und rief: Gepriesen bist du, Herr, Gott unseres Vaters Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit ... Reichtum und Glanz gehen von dir aus. Du bist es, der über alles gebietet. In deiner Hand liegen Kraft und Stärke. In deiner Hand ist es, alles groß und stark zu machen. Darum, unser Gott, preisen wir dich und rühmen deinen herrlichen Namen. Denn wer bin ich und was ist mein Volk, dass wir die Kraft besaßen, solche Gaben zu spenden? Denn von dir ist alles und von deiner Hand spenden wir dir" (1 Chr 29, 9-14).
Dies war die dankbare Gesinnung Davids in der Rückschau auf die Vergangenheit, das Staunen und Sich-Freuen über den Weg, auf dem ihn sein allmächtiger Beschützer geführt hatte, und über die Taten, die er ihn zu vollbringen befähigt hatte; die Lobpreisung und Verherrlichung für sein Erbarmen und seine Treue. David sowie Jakob und Paulus können als die drei großen Vorbilder der Dankbarkeit angesehen werden, die uns die Heilige Schrift vor Augen stellt – Heilige, die alle in besonderer Weise das Werk der göttlichen Gnade waren und deren ganzes Leben und Atmen darin bestand, in Demut und Anbetung über den Gegensatz nachzusinnen zwischen dem, was sie – jeder auf seine Weise – früher waren und dem, was aus ihnen wurde. Ein darbender Wanderer wurde unerwartet zum Patriarchen; ein Hirte zum König; ein Verfolger zum Apostel: jeder wurde nach Gottes unergründlichem Wohlgefallen auserwählt, ein großes Ziel zu verwirklichen, und während jeder sein Äußerstes tat, um dies zu erreichen, pries er Gott fortwährend, weil er ihn zu seinem Werkzeug gemacht hatte. Vom Ersten wurde gesagt: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehasst" (Röm 9, 13); vom Zweiten heißt es: „Das Zelt des Joseph verwarf er, Ephraims Stamm erwählte er nicht. Doch erkor er sich Juda, den Zionsberg, den er liebte. Und den David erwählte er, seinen Knecht, von den Herden der Schafe holte er ihn" (Ps 78, 67-70). Der heilige Paulus sagt von sich selbst: „Zuletzt aber von allen ist er auch mir erschienen, gleichsam der Fehlgeburt" (1 Kor 15, 8).
Diese Gedanken überkommen einen ganz natürlich zu einer Zeit im Jahr, da wir dabei sind, Gottes Gnade zu preisen, die uns durch die Menschwerdung seines eingeborenen Sohnes, der größten und wunderbarsten all seiner Erbarmungen, zu seinen Kindern gemacht hat. Und dem Patriarchen Jakob sind nun unsere Gedanken ganz besonders zugewandt in der ersten Lesung dieses Tages, die dem Propheten Jesaja entnommen ist und in der die Kirche angesprochen und getröstet wird unter dem Namen Jakobs. Wollen wir also in dieser Zeit der Dankbarkeit und zu Beginn eines neuen Jahres einen kurzen Blick auf den Charakter dieses Patriarchen werfen; und obschon David und Isaias die Propheten der Gnade sind und der heilige Paulus ihr besonderer Bote und wichtigstes Vorbild, meine ich, dass, wenn wir ein lebendiges Beispiel für eine Gesinnung der Dankbarkeit zu sehen wünschen, die erfüllt ist von der Erinnerung an Gottes Erbarmungen, wir nicht fehlgehen, wenn unsere Wahl auf Jakob fällt.
Die Tugenden, die Jakob auszeichneten, waren, wie man sie wohl nennen darf, ein beständiges liebevolles Nachsinnen über die ihm in der Vergangenheit zuteil gewordene göttliche Vorsehung und eine überfließende Dankbarkeit dafür. Nicht als hätte er keine anderen Tugenden besessen, doch diese scheint ihn besonders auszuzeichnen. Alle guten Menschen besitzen alle Tugenden in je eigenem Maß; denn der, durch den sie die Tugenden empfangen haben, verleiht keine einzeln: er schenkt die Wurzel, und die Wurzel bringt Triebe. Da aber die Zeit und die Umstände, der jeweilige Gebrauch der Gabe, Veranlagung und Charakter großen Einfluss auf die Art und Weise ausüben, wie sie in Erscheinung tritt, geschieht es, dass jeder gute Mensch neben den übrigen seine persönliche, ihm eigentümliche Tugend besitzt, mit ihrer besonderen Färbung, ihrem besonderen Duft und ihrer besonderen Gestalt, gleich einer Blume. Nun bringt die Erde zahllose Blumen hervor; alle sind Blumen und gleichen insofern einander; alle entsprießen der gleichen Erde und werden durch die gleiche Luft und den gleichen Tau genährt und keine ist ohne Schönheit; gleichwohl sind manche schöner als andere; und unter den schönen tun sich manche durch ihre Farbe und manche durch ihren Duft hervor, und wieder andere durch ihre Gestalt; diejenigen wiederum, die duften, verströmen einen so vollkommenen, doch so verschiedenartigen Wohlgeruch, dass wir nicht wissen, wie wir sie miteinander vergleichen sollen, oder sagen können, welche lieblicher duftet: ähnlich verhält es sich mit den Seelen, die von Gottes geheimnisvoller Gnade erfüllt und genährt werden. Abraham, zum Beispiel, Jakobs Großvater, war das Urbild des Glaubens. Dies bezeugt die Schrift, und dass es so war, bedarf hier keines Beweises. Es genügt zu sagen, dass er sein Land auf Gottes Wort hin verließ; und auf das gleiche Wort hin ergriff er das Messer, um seinen eigenen Sohn zu töten. Abraham scheint etwas sehr Edles und Großmütiges an sich gehabt zu haben. Er konnte sich Unsichtbares vorstellen und vergegenwärtigen. Er folgte Gott in der Dunkelheit genauso bereitwillig, genauso so entschlossen, mit so frohem Herzen und mutigem Schritt wie am helllichten Tag. Darin liegt etwas sehr Großes, und deshalb bezeichnet ihn Paulus als unseren Vater, den Vater der Christen wie der Juden. Denn wir sind in besonderem Maße darauf verpflichtet, im Glauben und nicht im Schauen zu wandeln, und wir sind im Glauben gesegnet und durch den Glauben gerechtfertigt wie der getreue Abraham. Nun war (wenn ich das sagen darf, mit der gebührenden Ehrerbietung vor dem Gedenken jenes begnadeten Dieners Gottes, zu dessen Lob ich jetzt spreche) jener Glaube, in dem sich Abraham so hervortat, nicht Jakobs vortrefflichste Charaktereigenschaft. Nicht dass er keinen Glauben besessen hätte – ganz im Gegenteil sogar einen großen Glauben, sonst hätte Gott ihn nicht so geliebt. Dass er Esau sein Erstgeburtsrecht abkaufte und sich den für Esau bestimmten Segen erschlich, waren Beweise seines Glaubens. Esau sah in beiden nichts, jedenfalls nichts Kostbares – er war weltlich gesinnt; unbesorgt trennte er sich von dem einen und vom anderen hatte er keine rechte Vorstellung. Jakobs Glaube hingegen, so ernst und stark er auch war, glich nicht dem Abrahams. Abraham hielt seine Gefühle der Zuneigung von allem Irdischen fern und war bereit, auf Gottes Wort hin, seinen einzigen Sohn zu töten. Jakob hatte viele Söhne, und dürfen wir nicht sogar behaupten, dass er ihnen gegenüber allzu nachgiebig war? Selbst was Josef anbetrifft, den er mit Recht so sehr liebte, so schön und rührend seine Liebe zu ihm auch ist, besteht doch ein großer Gegensatz zwischen seinen Gefühlen für „den Sohn seines Greisenalters" (Gen 37, 3) und denen Abrahams für Isaak, dem unerwarteten Spross seines hundertsten Lebensjahres – und nicht allein das, sondern seinen lange versprochenen Sohn, auf dem die Verheißungen ruhten. Schauen wir weiter: Abraham verließ seine Heimat – so auch Jakob; Abraham jedoch auf Gottes Geheiß – Jakob notgedrungen aufgrund der Drohung Esaus. Abraham spürte von Anfang an, dass Gott sein Teil und sein Erbe war, und gab voller Großmut aus freiem Willen all seinen Besitz auf, in der Gewissheit, dass er dafür etwas Höherwertiges finden werde. Jakob hingegen, wiewohl er wirklich aus dem Glauben lebte, wollte, wie eine Stelle in seiner Lebensgeschichte zeigt, (wenn wir so sagen dürfen) sehen, ehe er ganz glaubte. Als er vor Esau floh und nach Bet-El kam und Gott ihm im Traum erschien und ihm Verheißungen gab, sie aber noch nicht erfüllte – was tat er da? Hat er die Verheißungen einfach hingenommen? – Er sagte: „Wenn Gott mit mir ist und mich auf diesem Weg, den ich nun gehe, behütet und mir Brot zum Essen und Kleider zum Anziehen gibt, und wenn ich wohlbehalten in das Haus meines Vaters zurückkehre, dann soll der Herr mein Gott sein" (Gen 28, 20-21). Er macht seinen Gehorsam in gewisser Weise von einer Bedingung abhängig; und obwohl wir diese Worte nicht so nehmen dürfen und brauchen, als wolle er damit sagen, dass er Gott nicht dienen würde, ehe und sofern dieser nicht das für ihn täte, was er versprochen hatte, scheinen sie doch eine Befürchtung und Besorgnis zu offenbaren, gelinde zwar und gedämpft und nur allzu menschlich (und deshalb in den Augen von uns gewöhnlichen Menschen, die seine Worte lesen, umso interessanter und gewinnender), gleichwohl eine Besorgnis, die Abraham nicht kannte. Wir spüren, dass Jakob eher unseresgleichen war als Abraham.
Welche Tugend also zeichnete den Jakob besonders aus, so wie es bei Abraham der Glaube tat? Ich habe es schon gesagt: ich denke, die Dankbarkeit. Abraham scheint stets nach vorn geschaut zu haben, in Hoffnung, – Jakob zurück, in Erinnerung; der eine erfreut sich an der Hoffnung, der andere an der Vergangenheit; die Gefühle des einen gelten der Zukunft, die des anderen der Vergangenheit; der eine geht den Verheißungen entgegen, der andere sinnt über deren Erfüllung nach. Nicht dass Abraham nicht auch zurückgeschaut hat, und Jakob, wie er auf dem Totenbett gesagt hat, nicht auch „hoffte auf das Heil des Herrn" (Gen 49, 18); dies aber machte den Unterschied zwischen beiden aus: Abraham war ein heldenhafter Mensch, Jakob „ein zurückgezogener Mann, der bei den Zelten blieb" (Gen 25, 27).
Jakob scheint ein sanftes, zartes, liebevolles, furchtsames Gemüt besessen zu haben – leicht zu erschrecken und zu beunruhigen; er liebte Gott so sehr, dass er fürchtete, ihn zu verlieren, und ihm lag vielleicht wie dem heiligen Thomas viel am Schauen und Besitzen aus dem ernsten und sehnsüchtigen Verlangen danach. Wäre der Glaube nicht, die Liebe würde ungeduldig, und so verlangte Jakob nach diesem Besitzen, nicht aus kalter Ungläubigkeit und Herzenshärte, sondern aus einer derartig liebenden Ungeduld. Solche Menschen sind leicht niedergeschlagen und müssen sanft behandelt werden; sie verzagen schnell, sie scheuen sich vor der Welt, denn sie spüren ihre Rohheit, was bei robusteren Naturen nicht der Fall ist. Weder Abraham noch Jakob liebten die Welt. Doch Abraham fürchtete sie nicht, spürte sie nicht. Jakob spürte sie und zuckte zusammen, als wäre er durch sie verwundet worden. Ihr erinnert euch an sein rührendes Klagen: „All dieses ist über mich gekommen!" (Gen 42, 36) – „Ihr würdet mein graues Haupt vor Kummer unter die Erde bringen" (Gen 42, 38). – „Ich aber bin wieder kinderlos, wie ich einst ohne Kinder war" (Gen 43, 14). An anderer Stelle wird uns gesagt: „Alle seine Söhne und alle seine Töchter bemühten sich, ihn zu trösten. Doch er wollte sich nicht trösten lassen" (Gen 37, 35). Ein andermal „blieb Jakobs Herz teilnahmslos; denn er glaubte ihnen nicht" (Gen 45, 26). Und kurz darauf „lebte der Geist ihres Vaters Jakob wieder auf" (Gen 45, 27). Ihr seht, welch kindliches, empfindsames, sanftes Gemüt er hatte. Folglich lag, wie ich gesagt habe, sein Glück nicht im Blick nach vorn, auf die Erbarmungen Gottes hoffend, sondern im Blick zurück auf die von ihm erfahrenen Erbarmungen. Er erfreute sich liebevoll daran, dem nachzugehen und das dankbar anzunehmen, was ihm zuteil geworden war, und überließ die Zukunft sich selbst.
Als er sich zum Beispiel auf den Weg zu Esau macht, bringt er im Gebet – in Worten, denen unser vorangestelltes Schriftzitat entnommen ist – all das vor Gott, was dieser schon für ihn getan hat, und berichtet inmitten seiner gegenwärtigen Besorgnis mit großer und demütiger Freude von Gottes früheren Wohltaten. „Gott meines Vaters Abraham", spricht er, „und Gott meines Vaters Isaak, Herr, der du zu mir gesagt hast: Kehr zurück in dein Land, zu deiner Verwandtschaft! Ich will es dir wohlergehen lassen. Ich bin nicht wert aller Gnaden und aller Treue, die du deinem Knecht erwiesen hast. Denn nur mit einem Stab hatte ich den Jordan überschritten und nun besitze ich zwei Lager" (Gen 32, 10-11). Und nach der Rückkehr in sein Land ging er daran, das gegebene Versprechen zu erfüllen und Bet-El zu einem Haus Gottes zu weihen. „Wir wollen uns aufmachen und nach Bet-El ziehen und dort dem Gott einen Altar bauen, der mich am Tag meiner Bedrängnis erhört hat und mit mir war auf dem Weg, den ich gegangen bin" (Gen 35, 3). Weiter sagt er, immer noch in der Vergangenheit verweilend, zum Pharao: „Die Jahre meiner Wanderschaft betragen einhundertdreißig, gering an Zahl und voll Leid waren meine Lebensjahre;" – er meint die Jahre an sich, losgelöst von der Erfahrung der Huld Gottes – „sie reichen nicht an die Lebensjahre meiner Väter in der Zeit ihrer Pilgerschaft" (Gen 47, 9). Als dann sein Ende naht, sagt er zu Josef: „Gott, der Allmächtige, war mir zu Lus" – das ist Bet-El – „im Land Kanaan erschienen und hat mich gesegnet" (Gen 48, 3-4). Ein weiteres Mal, immer noch zurückschauend: „Als ich aus Paddan-Aram kam, starb mir Rahel unterwegs im Land Kanaan, als es nur noch eine kurze Strecke bis Efrata war; dort habe ich sie am Weg nach Efrata begraben" (Gen 48, 7). Betrachten wir ferner seinen Segen über Efraim und Manasse: „Der Gott, vor dessen Angesicht meine Väter Abraham und Isaak gewandelt sind, der Gott, der mein Hirte war von meiner Jugend an bis zum heutigen Tag, der Engel, der mich erlöst hat aus aller Not, er segne diese Knaben" (Gen 48, 15-16). Wieder schaut er zurück auf das Land der Verheißung, allerdings inmitten des Überflusses Ägyptens: „Siehe, ich muss sterben. Gott aber wird mit euch sein und euch in das Land euerer Väter zurückkehren lassen" (Gen 48, 21). Und als er Anweisungen für sein Begräbnis gibt, sagt er: „Wenn ich mit den meinen vereint bin, so begrabt mich bei meinen Vätern in der Höhle auf dem Grundstück Efrons des Hetiters" (Gen 49, 29-30). Er gebietet, dass er bei seinen Vätern bestattet werde; das war nur natürlich, doch seht, was er dem in seiner besonderen Art noch hinzufügt: „Dort hat man Abraham und seine Frau Sara begraben, dort hat man Isaak und seine Frau Rebekka beigesetzt, und dort habe ich Lea bestattet" (Gen 49, 31). Und weiter noch, als er vom Harren auf Gottes Heil spricht, was ja ein Akt der Hoffnung ist, formuliert er es so, dass er zugleich auch in der Vergangenheit verweilt: „Ich harre", sagt er, will sagen, schon mein ganzes Leben lang harre ich, „auf dein Heil, o Herr" (Gen 49, 18). So war Jakob, der eher in der Erinnerung als in der Hoffnung lebte, der Zeiträume zählte, Jahreszeiten festhielt und Tage im Gedächtnis bewahrte; der seine Geschichte auswendig kannte und sein vergangenes Leben in Händen hielt; und um gleichsam seinen Geist auf den seiner Nachkommen zu übertragen, wurde ihnen auferlegt, dass einmal im Jahr jeder Israelit mit einem Korb von Früchten des Landes vor Gott zu erscheinen, sich ins Gedächtnis zu rufen habe, was Gott für ihn und seinen Vater Jakob getan, und seine Dankbarkeit dafür zum Ausdruck zu bringen habe. „Ein heimatloser Aramäer war mein Vater", sollte er sagen, –gemeint war Jakob – „er zog hinauf nach Ägypten und hielt sich dort als Fremder auf. Dort wurde er zu einem großen, starken und zahlreichen Volk. ... Und er Herr führte uns aus Ägypten weg mit starker Hand und erhobenem Arm, unter gewaltigem Schrecken, unter Zeichen und Wundertaten. Er brachte uns an diesen Ort ... ein Land, das von Milch und Honig fließt. Und hier bringe ich nun die Erstlinge von den Früchten des Landes, das du, Herr, mir schenktest" (Dtn 26, 5-10).
Wie gut wäre es für uns, hätten wir die Gesinnung Jakobs, wie wir sie an Beispielen aufgezeigt haben und wie sie seinen Nachkommen eingeschärft wurde; die Festigkeit im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung, die daraus fließende Dankbarkeit und die sorgfältige Erinnerung an alles, was er für uns getan hat. Es wäre gut, wenn wir es uns zu Eigen machten, alles was wir haben, als Geschenk Gottes zu betrachten, als unverdiente Gabe, die uns allein seine Gnade Tag für Tag aufs Neue gewährt. Er hat es gegeben; er kann es nehmen. Er hat uns alles gegeben, was wir haben: Leben, Gesundheit, Kraft, Verstand, Freude, das Licht des Gewissens; alles, was an Gutem und Heiligem – was an Glauben, was an erneuertem Willen, was an Liebe zu ihm, was an Macht über uns selbst, was an Aussicht auf den Himmel – in uns ist. Er hat uns Verwandte, Freunde, Erziehung, Ausbildung, Wissen, die Heilige Schrift und die Kirche gegeben. Alles kommt von ihm. Er hat es gegeben; er kann es nehmen. Würde er es nehmen, so wäre dies eine Aufforderung an uns, dem Beispiel Ijobs zu folgen und uns zu fügen: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; der Name des Herrn sei gepriesen" (Ijob 1, 21). Solange er uns seine Segnungen gewährt, sollten wir uns David und Jakob anschließen und ein Leben in beständigem Lobpreis und Dank führen und Gott von dem Seinigen zum Opfer geben.
Wir gehören uns nicht selbst, ebenso wenig wie uns das gehört, was wir besitzen. Wir haben uns nicht selbst geschaffen; wir können nicht über uns selbst herrschen. Wir können nicht unsere eigenen Herren sein. Wir sind Eigentum Gottes durch Erschaffung, durch Erlösung und durch Wiedergeburt. Er hat ein dreifaches Anrecht auf uns. Ist es nicht unser Glück, die Dinge so zu sehen? Ist es etwa ein Glück oder Trost zu glauben, dass wir uns selbst gehören? Junge und gut situierte Menschen mögen so denken. Sie mögen es für eine große Sache halten, in allem, so wie sie es sich vorstellen, ihren Willen durchzusetzen, – von niemandem abhängig zu sein, – an nichts außerhalb der eigenen Sichtweite denken zu müssen, – frei zu sein von der Lästigkeit des ständigen Sich-Bedankens, des ständigen Betens, des ständigen Rücksichtnehmens in ihrem Tun auf den Willen anderer. Doch im Laufe der Zeit werden sie wie alle Menschen erkennen, dass die Unabhängigkeit nicht für den Menschen geschaffen ist – dass sie ein unnatürlicher Zustand ist – vielleicht ein Behelf für eine gewisse Zeit, uns aber nicht sicher bis ans Ende führen wird. Nein, wir sind Geschöpfe und als solche haben wir eine doppelte Pflicht: ergeben und dankbar zu sein.
Lasst uns also die Fügungen der Vorsehung, die Gott für uns bereithält, mit gläubigeren Augen betrachten als bisher. Lasst uns versuchen, zu einer wahrhaftigeren Sicht dessen zu gelangen, was wir und wo wir in seinem Reich sind. Lasst uns demütig und ehrfürchtig daran gehen, seiner führenden Hand in unserem bisherigen Leben nachzuspüren. Lasst uns dankbar der vielen Erbarmungen gedenken, die er uns in der Vergangenheit hat zuteil werden lassen; der vielen Sünden, die er uns nachsieht; der vielen Gefahren, die er von uns abgewendet hat; der vielen Gebete, die er erhört hat; der vielen Fehler, die er für uns zum Guten gewendet hat; der vielen Warnungen, der vielen Lehren, des vielen Lichtes und der reichlichen Tröstungen, die er uns von Zeit zu Zeit geschenkt hat. Lasst uns verweilen bei den Zeiten und Geschehnissen, den Zeiten der Sorge, den Zeiten der Freude, den Zeiten der Prüfung, den Zeiten der Erfrischung. Wie hat er uns als Kinder umhegt! Wie hat er uns in jener gefahrvollen Zeit geleitet, da der Verstand selbständig zu denken und das Herz sich der Welt zu öffnen begann! Wie hat er mit seiner gütigen Strenge unsere Leidenschaften im Zaum gehalten, unsere Erwartungen gedämpft, unsere Befürchtungen besänftigt, uns in Bedrückung neu belebt, in Verlassenheit getröstet und in Schwachheit gestärkt! Wie behutsam führt er uns der engen Pforte entgegen! Wie lockt er uns weiter auf seinem Weg zur Ewigkeit, trotz dessen Strenge, trotz dessen Einsamkeit, trotz des Zwielichts, das über ihm liegt! Er ist für uns alles zugleich. Er ist, wie er es für Abraham, Isaak und Jakob war, unser Gott, unser Schild und unser großer Lohn, Verheißung und Erfüllung, Tag für Tag. „Bis hierher hat uns der Herr geholfen" (1 Sam 7, 12). „Der Herr gedenkt unser, er möge uns segnen" (Ps 115, 12). Er hat uns nicht vergebens erschaffen; er hat uns so weit geführt, um uns noch weiter zu führen, um uns weiter zu führen bis ans Ende. Er wird uns niemals verlassen und im Stich lassen, so dass wir voll Kühnheit sagen dürfen: „Der Herr ist mein Helfer; ich fürchte mich nicht; was kann ein Mensch mir antun?" (Hebr 13, 6). Wir dürfen „alle Sorgen auf ihn werfen, denn ihm liegt an uns" (1 Petr 5, 7). Was kümmert es uns, wie unser künftiger Weg verläuft, solange es sein Weg ist? Was kümmert es uns, wohin der Weg uns führt, wenn er uns am Ende zu ihm führt? Was kümmert es uns, was er uns auferlegt, solange er uns befähigt, es zu tragen mit reinem Gewissen und aufrichtigem Herzen, das nichts auf der Welt ihm vorzieht? Was kümmert es uns, welcher Schrecken uns befällt, solange er nahe ist, uns zu schützen und zu stärken? „Du aber, Israel", sagt er, „mein Knecht, und Jakob, den ich erwählt, Spross Abrahams, meines Freundes" (Jes 41, 8). „Hab keine Furcht, du Würmlein Jakob, ihr Leute von Israel! Ich helfe dir", ist der Spruch des Herrn, „dein Erlöser ist der Heilige Israels!" (Jes 41, 14). „So spricht der Herr, dein Schöpfer, Jakob, der dich geformt hat, Israel: Fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöst und rufe dich beim Namen, mein bist du. Gehst du durch Wasser, ich bin bei dir, durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten. Gehst du durch Feuer, du wirst nicht verbrennen; die Flamme wird dich nicht versengen. Denn ich, der Herr, bin dein Gott, der Heilige Israels ist dein Helfer" (Jes 43, 1-3).
Regina Kochs
Im Burgblick 7a
79299 Wittnau
Deutschland